Können wir eine Fremdsprache wie unsere Muttersprache lernen?

Wenn du jemals daran gezweifelt hast, ob du ein guter Sprachschüler bist, dann denke daran, dass du bereits eine Sprache sehr gut gelernt hast – deine Muttersprache.

Aber das wirft eine interessante Frage auf:
Können Erwachsene eine zweite Sprache auf die gleiche Weise lernen, wie sie ihre erste, also die Muttersprache, als Kinder gelernt haben? Und wenn ja, was bedeutet das für den Sprach-Unterricht?

 

Stephen Krashen und der Erwerb von Sprachen

Diese Frage wurde wahrscheinlich von niemanden genauer untersucht als vom Linguist Stephen Krashen, der einige der einflussreichsten Konzepte in das Studium des Zweitspracherwerbs eingeführt hat.

Stephen Krashen stellte in einer 1977 veröffentlichten Hypothese den Unterschied zwischen Sprachenlernen und Spracherwerb dar und bezeichnet das Sprachen lernen als den „bewussten, traditionellen grammatikalischen Prozess im Klassenzimmer“, wohingegen er den Spracherwerb als eine natürliche Entwicklung betrachtet und vorschlägt, dass jede weitere Sprache auf die gleiche Weise wie die Muttersprache erlernt werden sollte. Krashen sieht es als Fehler, Sprachen so zu unterrichten, wie Naturwissenschaften, Geschichte oder Mathematik.

 

Um erwachsene Sprachschüler dazu zu befähigen, eine Sprache zu beherrschen, bietet Krashen folgende Ideen an:

 

1. Wir erwerben Sprachen, wenn wir Nachrichten verstehen können

Die Lernenden müssen einen "verständlichen Input" erhalten, das heißt, sie brauchen interessantes und verständliches Hör- und Lesematerial. Nach Krashen verstehen wir Sprachen, wenn wir eine Botschaft verstehen. Er legt fest, dass der Schwerpunkt auf sinnvollen Interaktionen und nicht auf der Form liegen sollte.

Wenn Eltern beispielsweise mit ihren Kindern sprechen, liegt der Schwerpunkt eher auf der Bedeutung als auf dem korrekten Gebrauch der Grammatik. Eltern antworten auf die Zwei-Wort-Sätze ihres Kindes in der Regel mit einem vollständigen und grammatikalisch korrekten Satz.

 

2. Das richtige Niveau zu erreichen ist entscheidend

Krashen betont bei diesem wichtigen Punkt, dass der verständliche Input für den Lernenden auf dem richtigen Niveau sein muss; nämlich nur etwas höher als das des Lernenden. Ein gutes praktisches Beispiel hierfür ist die abgestufte Lektüre, die speziell für Fremdsprachenlernende auf verschiedenen Ebenen wie A2, B1, C2 usw. im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens  erstellt wurden.

 

3. Die schweigsame Zeit

Kinder fangen nicht sofort an, ihre Muttersprache zu sprechen. Bis sie ihre ersten Worte aussprechen, erwerben sie Sprache, auch wenn sie sie nicht benutzen. Die wunderbaren ersten Wörter und Sätze, die schnell folgen, sind das Ergebnis dieses Erwerbs. Erwachsene Lernende, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Klassenzimmers, brauchen diese stille Zeit ebenfalls. Lehrer sollten keine Angst haben, wenn ihre Schüler nicht an den Diskussionen im Unterricht teilnehmen - vielleicht erwerben sie einfach die Sprache. Wenn auf die Lernenden darüber hinaus Druck ausgeübt wird, bevor sie bereit sind, werden sie Angst bekommen.

 

4. Angst ist der Erzfeind des Schülers

Was uns zu einer der bekanntesten Einsichten von Krashen bringt: dem affektiven Filter. Dies bedeutet, dass die Erwerbsquote abnimmt, wenn wir unter Stress stehen oder Angst haben. Zum Glück haben die meisten Kinder eine praktisch stressfreie Sprachlernum-gebung zu Hause bei ihren Müttern und Vätern.

 

Aber für die Lernenden einer zweiten Sprache kann das Klassenzimmer eine Ursache von Angst sein, die sich stark auf die Art und Weise auswirkt, wie sie verständlichen Input erhalten und verarbeiten.

 

Im Gegensatz dazu ist eine Hausparty mit vielen internationalen Gästen ein großartiger Ort, um Sprachen zu üben, denn alle sind entspannt und haben eine gute Zeit. Eine solche Umgebung bietet dem Lernenden reichlich verständlichen Input, aber (hoffentlich) keine Angst. Die Lektion für Lehrer ist, dass sie eine ähnliche Umgebung schaffen können, indem sie den Klassenraum in eine Art Hausparty verwandeln, wo sich die Menschen wohl und entspannt fühlen.

 

Eine Möglichkeit, den Spracherwerb im Unterricht zu fördern, besteht laut Krashen darin, dass die Lernenden grammatikalische Merkmale beim Hören und Lesen von Texten mit Hilfe eines geführten Suchansatzes erkennen lernen. Wenn zum Beispiel die Lernenden eine Zuhöraufgabe erhielten, könnte die Lehrkraft das Transkript verteilen und die Schüler dazu bringen, alle Beispiele einer bestimmten grammatikalischen Struktur zu unterstreichen.

Anschließend könnten die Schüler unter Anleitung diese Grammatikstruktur in einer speziellen Situation verwenden lernen.

 

Krashen ist jedoch klar, dass das Hauptaugenmerk der Unterrichtsaktivitäten darauf liegen sollte, den Lernenden so viele verständliche Informationen wie möglich zu geben. Lehrer sollten ihre Unterrichtsstunden auf bedeutungsvolle Interaktionen mit vielen abgestuften Zuhör- und Leseeingaben stützen.

 

Krashens Hypothese der natürlichen Reihenfolge

Die Grammatik und das Vokabular einer Sprache werden in einer allgemeinen, gleichen Reihenfolge erworben, unabhängig davon, wer der Lernende ist, welche Sprache er erwirbt und welche Reihenfolge der Grammatiklehrplan vorgibt.

Bestimmte Elemente der Grammatik werden "spät erworben", wie beispielsweise die dritte Person, und andere werden "früh erworben".

 

Bevor wir uns die Auswirkungen von Krashens Einsichten auf den Unterricht im Klassenzimmer ansehen, sollten wir uns an einige der Vorteile erinnern, die Kinder, die ihre Muttersprache lernen, gegenüber Erwachsenen, die eine Fremdsprache lernen, haben.

 

Einer der Hauptvorteile besteht darin, dass Kinder auf der richtigen Ebene einer großen Menge an verständlichem Input ausgesetzt sind und dass sie keinen künstlichen Druck haben, zu sprechen, bis sie dazu bereit sind.

Kinder können sich  Zeit lassen und warten, bis sie sich sicher fühlen, bevor sie sprechen. Darüber hinaus haben sie oft geringere Erwartungen an sich selbst und dies trägt dazu bei, dass ihre Angstzustände niedrig sind, was wiederum ihre Erwerbsquote erhöht.

 

Eines der überraschendsten Dinge ist, dass, wenn Kinder eine Sprache erwerben, der Spracherwerb selbst nicht ihr Ziel ist. Es ist vielmehr ein Nebenprodukt eines anderen Zwecks, wie zum Beispiel Freundschaften auf einem Schulhof zu schließen. Außerdem nehmen sie die Elemente ihrer ersten Sprache in natürlicher Weise auf. Sie werden nicht zu früh mit Grammatikregeln "gefüttert".

Stattdessen erwerben sie zuerst die Sprache und betrachten dann ihre Struktur, nachdem der Erwerb bereits stattgefunden hat. Schließlich lernen sie die Elemente einer Sprache in der natürlichen Reihenfolge.

 

Aus Krashen's Theorien, und nachdem wir die Vorteile betrachtet haben, die Kinder gegenüber Erwachsenen haben, wenn es um das Erlernen von Sprachen geht, können wir bestimmte Schlüsse darüber ziehen, welche Bedingungen für eine erfolgreiche Lernumgebung sorgen.

Zunächst sollte die Unterrichtszeit so viel wie möglich mit verständlichen Input gefüllt werden. Zweitens sollten Klassen stressfreie Umgebungen sein, in denen die Schüler ermutigt werden, sich zu entspannen und die Sprache zu erlernen, indem sie Spaß daran haben.

 

Eine besonders wichtige Implikation von Krashens Erkenntnissen ist, dass Studenten, insbesondere auf niedrigeren Ebenen, niedrigere Anforderungen an sie haben sollten, um zu sprechen, und Materialien und die Sprechzeit von Lehrern sollten für jeden Schüler angepasst werden. Darüber hinaus sollte der Grammatikunterricht nur auf der Grundlage von "need-to-know" und nur bei älteren Lernenden erfolgen. Letztendlich, aber vielleicht am wichtigsten, sollte der Unterricht nicht auf grammatikalischen Punkten basieren, sondern auf dem Austausch von Bedeutung.